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Langversion Interview von Nicole Fivaz mit Markus Biedermann im Rahmen der Ausgabe 1/2022 des Fachmagazins Focus

«Ich würde wieder Heimkoch werden.» Diese Aussage lässt erahnen, mit wieviel Leidenschaft Markus Biedermann seinen Beruf ausübt. Er lässt uns teilhaben an über 40 Jahren Erfahrung und erklärt, warum er sich für die CareGastronomie-Ausbildung engagiert.

Markus Biedermann 1

Wie wurden Sie Heimkoch?

Nach der Geburt unserer Tochter wollte ich mit geregelten Arbeitszeiten meine Vaterrolle wahrnehmen. Ich ging in ein damals frisch eröffnetes Altersheim in Münchenbuchsee. Der Heimleiter fragte gleich zu Beginn: «Können Sie bewohnerorientiert arbeiten?» Ich dachte, ich bin Gastronom, klar kann ich das. Erst mit der Zeit wurde mir bewusst, dass ich viel zu lernen hatte.

Inwiefern?

Damals war die Nouvelle Cusine in Mode. Ich dachte, ich muss so kochen. Aber die Bewohnenden wollten Apfelrösti und keine Piccata mit Spaghetti. Heute wird Pasta gewünscht. Damals waren fast nur Kartoffeln gefragt, Griessschnitten der Renner und ich musste lernen «Fotzelschnitte» zu machen. Meine Mutter half mir bei den Rezepten. Wir waren zwar stadtnah und trotzdem lag ich mit meinen ersten Ideen, der Nouvelle Cuisine oder Reisgerichten, die es auch heute noch schwer haben, völlig falsch.

Trotzdem sind Sie geblieben?

Ja, denn die Bewohnerorientierung fing an, mir zu gefallen. Samstags haben wir gemeinsam den Menüplan gemacht. Früher ging nicht, weil sie es sonst wieder vergessen hätten. Nichts, nicht einmal die Weihnachtskerzen, lief ohne das Gremium Heimbewohnende.

Kein Spielraum also für eigene Ideen?

Doch, es war Kreativität pur. Wir waren die ersten mit einem Salatbuffet. Viele Köche meinten, das ginge nicht. Das hat mich angespornt. Wir hatten täglich mehr als 20 verschiedene Salate und nur drei (die Bohnen) aus der Büchse. Ein Lernender, eine angelernte Mitarbeiterin und ich kochten für 45 Bewohnende. Später habe ich bewiesen, dass sich solche Konzepte auch in einem grossen Heim mit 250 Personen realisieren lassen. Dort hatten wir sogar eine eigene Metzgerei, Bäckerei und Gärtnerei. Ich konnte so echt saisonal kochen. Allerdings war die Abwechslung ganz klein, weil die Bewohnenden immer dieselben Gerichte wollten, was auch absolut in Ordnung ist. Dadurch entstanden bei mir erste Grundideen zum Einbezug der Essbiografie der Bewohnenden bei der Menüplanung.

Wie ging es weiter?

Schon 1990 fingen wir an, pürierte Kost anders zu machen mit Flans, Terrinen etc. Ich wollte Kurse organisieren, aber erst hat das niemanden interessiert. 1992 entstand das erste Büchlein über die Esskultur im Heim. 2015 lancierte ich mit Careum die CareGastronomie-Ausbildung. Für mich haben die Essbiografie und die Bedürfnisse der Bewohnenden, auch spezielle Einzelwünsche, oberste Priorität. Die Küche muss so flexibel sein, dass Pommes frites auch morgens möglich sind. Man weiss in diesem Setting nie, wann es die letzte Mahlzeit ist. Einmal ist eine Bewohnerin, die sich von mir Spargeln wünschte, während sie diese ass verstorben.

Was hat sich in den Küchen verändert?

Früher haben in den Heimen oft Hausfrauen gekocht. Heute sind die Abläufe und das Management wahrscheinlich professioneller als vor 40 Jahren. Ich denke da speziell an die Arbeitssicherheit, die Hygiene und die Massnahmen rund um die Allergene.

Demnach wurde es besser?

Jein. Es gab Verbesserungen, so wird die CareGastronomie und deren Bedeutung mehr wahrgenommen. Allerdings ist die Devise der «drei schönen Erlebnisse» pro Tag oftmals ein Lippenbekenntnis. Sonst fände ich nicht Menüs wie Irish Stew mit Rösti als Sonntagsmenü. Das passt nicht. Die Kalbs- und Rindsbraten sowie der «saure Mocken» an anderen Orten gefallen mir hingegen. Ein Sweet&Sour-Gericht mag ein guter Wochenhit sein, aber kein Tagesmenü. Unser Kernauftrag sind die Bewohnenden und nicht die zusätzlichen Gäste oder der Verwaltungsrat.

Heime sollten also kein Restaurant führen?

Doch das wäre schon förderlich, wenn man sich sagen würde: wir haben eine traditionelle Schweizer Küche, die so gut ist, wie an keinem anderen Ort im Dorf. Wir sind die besten, wenn es um Originalrezepte, wie Ragout geht. Das muss das Ziel sein, denn Durchmischung ist gut.

Was zeichnet ein gutes Gastro-Konzept aus?

Dass es gemeinsam mit den Mitarbeitenden sowie der Pflege, der Aktivierung, dem Service und den Bewohnenden erarbeitet wurde und dass man es regelmässig überprüft. Man braucht eine Vision, daraus abgeleitet eine Mission und schliesslich konkrete Massnahmen wie Schulungen für die Mitarbeitenden. Und man darf die Menschen auf den Pflegeabteilungen nicht vergessen. Im Alltag braucht es den regelmässigen Austausch der Küche mit der Pflege, der Aktivierung und den Bewohnenden.

Ist das nicht aufwendig?

Ich empfehle allen: Macht ein Göttisystem. Delegiert Mitarbeitende, die einmal im Tag 15 Minuten als direkte Ansprechpartnerinnen und -partner im Tenü auf ihre Abteilung zu gehen. Das kann auch eine Hilfskraft übernehmen, wenn er oder sie eine Affinität hat für den Umgang mit älteren Menschen. Der Austausch mit Pflege und Aktivierung hingegen ist Chefsache.

Wo sehen sie Handlungsbedarf bei den Gastro-Konzepten?

Man muss den Mut haben, manchmal einen Schritt zurück zu gehen. So ermutige ich, statt vieler Menüs am Abend auch Mal ein Restenmenü anzubieten, wenn man zu viel gekocht hat und zwar mit einem kreativen Namen. Es ist doch schräg, wenn ein Koch extra ein Tessinerbrot bäckt, um dann Fotzelschnitten zu machen, dafür ist das alte Brot da. Zudem fehlt der Austausch. Man sollte schauen, wie andere Häuser arbeiten. Auch Spitzenköche blicken anderen über die Schulter, holen sich so Ideen und übernehmen Tipps.

Welchen Tipp geben Sie?

Wieder mehr nach Rezept zu kochen. Viele Köche meinen es im Griff zu haben und wollen das nicht wegen der Kreativität. Dabei sichert es die Qualität des Essens und reduziert FoodWaste. Auch grosse Namen kochen mit Rezept. Kreativität ist, wie ich anrichte und Gerichte so ausfeile, bis sie perfekt sind.

Kürzlich haben Sie einem Betrieb empfohlen, ein veganes Mittagsmenü zu machen. Widersprechen sie sich damit nicht selbst?

Es geht nicht um eine vegane Lebensweise. Meine Idee ist es, das Vegetarische – das durchaus gefragt ist – gerade zu überspringen, denn es wird vielerorts schlecht umgesetzt. Das im Alter so wichtige Eiweiss kommt meist zu kurz. Eine Scheibe Käse übers Gemüse reicht nicht. Wenn sich die Mitarbeitenden mit der veganen Küche auseinandersetzen, dann können sie auch vegetarisch. Die Leute, die schon vegetarisch leben, hätten einen Gewinn, weil sie ein eiweissreiches Essen erhalten. Und es geht ja nur um das Mittagessen. Käse zum Zmorge und Milch im Kaffee gibt es weiterhin. Der zweite Gedanke ist, dass ich damit ein Menü anbiete, das laktosefrei und cholesterinärmer ist. Damit kann man schon viel ausschliessen und es ist erst noch gesund.

Zum Schluss, was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich möchte, dass ich beim Eintritt ins Altersheim gefragt werde, was ich will. Dazu eine kleine Anekdote aus meiner Anfangszeit: Bei uns im Heim war Herr Burri. Eines Winters sagte er: «Jetzt reicht es dann mal mit den Buschbohnen, ich will wieder einmal Stangenbohnen.» Ich habe das gehört und wieder vergessen. Im Mai ging die Heimleitung in die Ferien. Kaum weg, kam ein riesiger Traktor auf unser Gelände und pflügte einen Teil des Gartens. Ein zweiter Bauer kam mit 120 Bohnenstangen, die Herr Burri mit seinem Freund Herr Dick im Winter im Wald ausgeholzt hatte. Die Samen waren schon gewässert und am Abend waren die Bohnen eingesetzt. Der Plan: Die Pflanzen sollten draussen sein, wenn der Heimleiter zurückkommt und so war es auch.

Wie ging die Geschichte aus?

Unser Chef hat aus Jux die Polizei und den Gemeindepräsidenten angerufen, die kurz darauf bei Herr Burri vorfuhren. Da kriegte Herr Burri es mit der Angst zu tun. Aber nur kurz, denn dann haben sie gemeinsam auf seine glorreiche Idee abgestossen. Herr Burri wurde 101 Jahre alt. Er hat im Heim Kaninchen gezüchtet und für seine Tiere ein Areal eingezäunt. Die Leitung hat das zugelassen. Mit diesem Beispiel will ich zeigen, wie wichtig es ist, dass die Bewohnenden ihr Zuhause entwickeln können und nicht die Architekten. Wir müssen das Leben zusammen ihnen gestalten, sie fragen, was für sie gut ist und was sie wollen. Als Koch kann ich Highlights schaffen für sie. Ich fand es schade, dass die Köche in er Pandemie-Zeit nicht aktiver waren. Man hätte zum Beispiel draussen ein Feuer machen und Bräteln können. Statt zu helfen, die Zeitungen mit negativen Meldungen zu füllen, hätte man mit guten Geschichten auf sich aufmerksam gemacht. Ich habe nicht verstanden, dass man nicht sagte, jetzt erst recht. Es braucht nicht viel für ein Erlebnis.

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