Autor:
Christian Streit
Die in der Pflegeinitiative formulierten Anliegen sind unbestritten, spätestens seit der Corona-Pandemie sowieso: «Bund und Kantone anerkennen und fördern die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung und sorgen für eine ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität.» Und: «Sie stellen sicher, dass eine genügende Anzahl diplomierter Pflegefachpersonen für den zunehmenden Bedarf zur Verfügung steht und dass die in der Pflege tätigen Personen entsprechend ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen eingesetzt werden.» Diesem sehr allgemein gehaltenen Text der Initiative können wir alle zustimmen. Deshalb hat sich das Parlament auch in jahrelangen Debatten damit beschäftigt, diese Worte in einen konkreten Gesetzestext zu fassen. Im danach nahezu einstimmig verabschiedeten Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative ist dies aus meiner Sicht hervorragend geglückt: Darin wird das wichtigste Problem – der Personalmangel – durch eine grosse Ausbildungsoffensive bekämpft. Weitere Mangelberufe wie etwa Ingenieure, IT-Fachleute und Techniker können von so einer Mitfinanzierung ihrer Ausbildung durch die Steuerzahler nur träumen.
Gegenvorschlag beinhaltet mehr als Ausbildungsoffensive
Der Gegenvorschlag packt auch das im Initiativtext nicht enthaltene Hauptproblem der Langzeitpflege – zu wenig Zeit für komplexe Pflegesituationen, Demenz und Palliativpflege – an mit expliziter Verankerung im Gesetz. Davon profitieren sowohl stationäre als auch ambulante Gesundheitsorganisationen. Leider wir in der öffentlichen Debatte rund um die Pflegeinitiative dieser wichtige Aspekt wie auch jener, dass mit dem Gegenvorschlag Pflegende künftig ohne ärztliche Verordnung Leistungen abrechnen können, selten aufgegriffen. Letzteres würde die Spitex-Organisationen und Ärzte administrativ entlasten und Kosten sparen im Gesundheitswesen.
Entsprechend kann ich nicht nachvollziehen, warum denn die Pflegeinitiative nicht zu Gunsten dieses Gegenvorschlags zurückgezogen wurde. Wir stehen nun vor der unglücklichen Situation einer Abstimmung, welche bei einem sympathischen JA weitere jahrelange Debatten mit sich bringt – die Initiative selbst spricht von vier Jahren – und nur bei einem NEIN die Problemlösung sofort angegangen wird.
Ist mehr wirklich mehr?
Mehr geht immer! Je länger die Debatten andauern, umso länger wird der Forderungskatalog der hinter dieser Initiative stehenden Gewerkschaften. Zuletzt hat der VPOD für die Pflegenden eine 36-Stunden-Woche, eine Pensionierung mit 60 Jahren und zehn Prozent mehr Lohn gefordert. Damit würde der Personalbedarf noch erhöht und die Mangellage verschärft. Das gleiche gilt für die Forderung einer „Nurse-to-Patient-Ratio“. Demnach sollen mehr studierte Pflegende pro Anzahl Patienten eingesetzt werden. Da stellen sich mir gerade mit Blick auf die Pflegeheime die Fragen: Wollen wir wirklich Fachangestellte Gesundheit durch Pflegende mit einem Studienabschluss ersetzen? Und wenn es doch heute schon zu wenig studierte Pflegende gibt, woher sollen alle diese zusätzlich verlangten Personen kommen?
Was bedeutet eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen genau
Die Pflegeinitiative kann keine Lösung bieten, weil man die Umsetzung von «besseren Anstellungsbedingungen» nicht einfach ins Gesetz schreiben kann. So existieren in der Praxis sehr unterschiedliche Vorstellungen und Wünsche, etwa auch nur in der Nacht oder nur am Wochenende zu arbeiten, zum Beispiel, weil die Kinderbetreuung in dieser Zeit gewährleistet ist. Genau solche individuellen Lösungen verunmöglicht eine Fixierung der Bedingungen mit starren Anstellungsvorgaben. Heute ist es doch geradezu so, dass die von der Initiative betroffenen tertiären Pflegenden selber ihr Pensum und meist sogar die Arbeitstage und Dienste wählen können, weil der Markt so ausgetrocknet ist, was die Planung für eine qualitative Pflege und Betreuung rund um die Uhr zunehmend erschwert.
Betriebe haben bereits einiges verbessert bei den Arbeitsbedingungen
Wer sich für die Pfleginitiative einsetzt, reklamiert vor allem, dass im Gegenvorschlag nichts zu den Arbeitsbedingungen steht und die Betriebe in den letzten Jahren für deren Verbesserung nichts unternommen hätten. Das stimmt so nicht: Die Arbeitsbedingungen wurden gerade bei Spitex-Betrieben und in den Pflegeheimen in den letzten Jahren ständig verbessert und wegen des Personalmangels wird dies auch weiterhin der Fall sein. Eine Umfrage bei den Pflegeheimen hat ergeben, dass ganze 100 Prozent der an der Befragung teilnehmenden Betriebe bereits heute eine Förderung der Aus-/Weiterbildung kennen. Zudem haben 94 Prozent in den letzten Jahren weitere Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen umgesetzt. Dazu gehört namentlich mehr Ferien, optimierte Einsatzplanung, verbesserte Infrastruktur, Anpassung des Stellenschlüssels sowie höhere Löhne und/oder Prämien. Auch verfügen fast 80 Prozent der Betriebe über ein betriebliches Gesundheitsmanagement und einen Ruheraum.
Was dient den Pflegenden – und uns allen – am meisten?
Die eigentliche Frage ist: Warum steigen denn Pflegende aus? Es ist wegen der Unterbestände und der damit zusammenhängenden ständigen Abrufbereitschaft und der vielen zusätzlichen Einsätze. Zudem wegen einer Unzufriedenheit, weil man infolge Zeitmangels nicht so gut pflegen kann, wie man möchte. Genau bei diesen Problemen hilft der Gegenvorschlag sofort und direkt: Mit der Ausbildungsoffensive gibt es mehr Pflegepersonal, so dass weniger ausserordentliche Einsätze geleistet werden müssen und die gewünschten Pensen einfacher eingehalten werden können. Zudem sieht der Gegenvorschlag explizit mehr Zeit für komplexe Pflegefälle, namentlich bei Demenz und Palliative Care vor. Das hilft auch den betroffenen Patientinnen und Patienten ganz direkt. Jedenfalls viel mehr als ein schwammiger Text in der Bundesverfassung, welcher im Laufe der kommenden Jahre durch das Parlament und die Kantone erst noch irgendwie umgesetzt werden muss. Wer nicht bloss eine symbolische Unterstützung ausdrücken, sondern die Probleme konkret und schnell angehen will, stimmt deshalb NEIN zur Pflegeinitiative.
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