Mit einer generationenübergreifenden Umfrage im Rahmen des Projekts «Alter 2040» wollte die terzStiftung herausfinden, wie sich Personen aller Altersgruppen ihr Alter in 15-20 Jahren vorstellen und welche Formen von Innovation (Digitalisierung, Robotik, Künstliche Intelligenz, …) sie akzeptieren würden. Primär wurden Personen und Institutionen in der Deutschschweiz angeschrieben, zu denen die terzStiftung eine Beziehung hat, namentlich Geschäftsleitungen von Altersinstitutionen, Spitex, ausgewählte Gemeinden und andere in der Altersarbeit Tätigen. Insgesamt antworteten 443 Personen, was eine Auswertung nach verschiedensten Kriterien (Alter, Geschlecht, Arbeitsplatz, Unterstützungsbedarf) ermöglichte.
Details mit zahlreichen attraktiven Grafiken, Kommentaren und Beispielen von Arbeitsblättern finden Sie als Magazin Flipbook mittels QR-Code (unten) oder http://www.terzstiftung.ch/alter2040/, wo Sie auch den Link zum kostenlosten Download anfordern können.
Bedürfnisse im Alter: Selbstbestimmung über allem! … und: als Person geschätzt werden
Von Seiten der Bewohnenden und Angehörigen gibt es kein direktes Bedürfnis nach Technologie. Die Bedürfnisse sind analoger Natur: Gesundheit, Selbstbestimmung, Sicherheit, Respektierung der Persönlichkeit, als Individuum wahrgenommen werden, Wertschätzung, Kultur und Aktivität, keine Einsamkeit (nicht zu verwechseln mit dem Bedürfnis, (manchmal) allein zu sein), Netflix-Modell des Dienstleistungsbezugs («was, wann und wo ich will») und: … individuelle Ziele.
Dieser letzte Punkt ergibt sich aus der persönlichen Biographie und ist besonders spanend. Die terzStiftung arbeitet im Rahmen von Tests zu europäischen AAL-Projekten oft mit pflegebedürftigen, manchmal multimorbiden oder leicht dementen Menschen zusammen (die zu Hause oder in einer Altersinstituion wohnen), und diese Menschen haben persönliche Motive, die uns zuweilen überrraschen: «Nochmals in einem Konzerthaus eine Treppe ohne Stock hinaufgehen können», «Meine Briefmarken über Ricardo verkaufen, um Kontakt zu haben und Taschengeld zu verdienen», «Endlich mal einer Band ein Instrument zu spielen, das ich in meiner Jugend beherrschte (68er-Generation! Woodstock!)».
In all diesen Fällen braucht es Technologie, aber sie ist ein Hilfsmittel, sie steht nicht im Vordergrund. Sie muss «selbstverständich» vorhanden sein (schnelles und stabiles WLAN) und sie hat auch eine menschliche Seite: Unterstützung beim Einrichten, updaten, Beheben von Fehlern.
Diese individuellen Bedürfnisse zu erkennen und technologische und menschliche Voraussetzung schaffen, um sie zu befriedigen - das macht die Qualität und die Besonderheit einer Altersinstituion aus, bereits heute und immer mehr in der Zukunft.
Welche Bedürfnisse können mit welcher (akzeptierten) Technologie befriedigt werden?
- Technolgie, welche dem Personal mehr Zeit für die individuelle Betreuung und Pflege verschafft und Stress reduziert, ist sinvoll und wird akzeptiert. Dazu gehören: alles, was unter Administrativem läuft, enutzerfreundliche und vernetzte EPD Systeme (wovon wir noch weit entfernt sind), automatisierte durchgehende Berichte und Abrechnungen.
- Technologien, welche das Pflegepersonal bei schwerer, repetitiver Arbeit unterstützen. Dazu gehören Serviceroboter (berits im Einsatz) und Pflegeroboter (noch nicht mit durchschlagendem Erfog praxiserprobt; Besipiele aus Japan sind noch nicht überzeugend).
- Technologien, welche Gesundheit im weitesten Sinn unterstützen. Dies können sein Sensoren, Mikrochips / Künstliche Intelligenz / Expertensystem für Diagnose und Behandlungsvorschläge, kontrollierte Medikamentenabgabe bzw- einnahme, Algorythmen für optimierte Polymedikation, … wobei es immer auch die Persönlichkeit des Hausarztes braucht, um diese Akzeptanz zu gewährleisten.
- Technologien, welche die Erfüllung der Bedürnisse nach (individueller) Aktivität und sozialer Teilhabe unterstützen. Dazu gehören Kuschelrobben, Spieltische, Apps zur Motivation körperlicher oder geistiger Tätigkeit, …
- Vieles, was das länger selbständige Wohnen im Zuhause oder in einer (flexibel) betreuten Wohnform (intermediär) erleichtert: Stichwort Smart Home. Dabei muss Die Angst vor permanenter Überwachung ernst genommen werden. Ein informiertes Abwägen zwischen maximalem Komfort und sachdienlicher Aufnahme und Weitergabe von Daten mit allen Vor- und Nachteilen sollte individuell ermöglicht werden.
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Highlights aus der Befragung
- Wir alle gehen davon aus, dass das Image der Altersinstitutionen durch überwiegend negative Presse im Zusammenhang mit Covid-19 stark gelitten hat. Das Befragungsergebnis bestätigt das nicht im erwarteten Umfang. Überschätzen wir eventuell den Einfluss der Presse? Sind möglicherweise die persönlichen Erfahrungen massgebender?
- Obwohl in einer anderen Frage eine grosse Mehrheit angibt, «nur wenn es wirklich nicht mehr anders geht» in eine Altersinstituition zu ziehen, scheint die Vorstellung der Ueberwachung zu Hause derart abschreckend zu sein, dass das Pflegeheim dank menschlicher Betreuung (!) dann doch die attraktivere Option ist.
- Die Vorstellung, einen Chip eingepflanzt zu erhalten, löst keine Begeisterung aus, wobei ältere Menschen noch positiver eingestellt sind.
- Den Pflegerobotern attestiert nur eine Minderheit eine möglicherweise überlegene Qualität (man kann sich etwa das Impfen vorstellen – wir sprechen hier ja nicht von Eingriffen im Spital, wo die technologische Unterstützung selbstverständlich ist), wobei die über 60 Jährigen erstaunlicherweise positiver eingestellt sind. Grundsätzlich sehen die Befragten bei Pflegerobotern mehr Nachteile als Vorteile.
- Niemand mag Sozialroboter - sie können einem leid tun! Obwohl: die Frage hier zielte ja auf eine gesellschaftliche Betrachtungsweise; im Einzelnen werden durchaus positive Aspekte gesehen (Sicherheit, Hilfe im Haushalt zur Kosteneinsparung bei Spitex), sobald es aber um «Beziehung» geht, fallen Sozialroboter durch. Lieber richtige Haustiere oder einen Streichelzoo als die Robbe «Paro», könnte man folgern; wir meinen: das eine tun und das andere nicht lassen, denn wir vermuten, dass vor allem der Begriff abschreckend ist bzw. als Widerspruch in sich selber gesehen wird.
- Den Nutzen technischer Möglichkeiten zur Früherkennung negativer gesundheitlicher Entwicklungen sehen viele nur bedingt.
Dieser Teil der Auswertung bestätigt die vonseiten terzStiftung schon vorher geäusserte Vermutung, dass die Skepsis gegenüber neuen Technologien gross ist; die Angst vor Überwachung, Verlust der Datenhoheit, fehlende menschliche Kontakte, überwiegt. Hier müsste dringend aufgezeigt werden, dass Technologie nicht den pflegenden und betreuenden Menschen ersetzt, sondern hilft, diesen wieder mehr wertvolle Zeit für die Bewohnenden zu verschaffen. Allerdings muss diese Information offen und transparent sein, die Befürchtungen, dass mit Technologie «nur» Geld und Arbeitskräfte eingespart werden sollen, muss ernst genommen und thematisiert werden.
Im Uhrzeigersinn (beginnend bei 12 Uhr) ergeben sich folgende Erkenntnisse (detaillierte Zahlen können über den Link am Schluss des Artikels angefordert werden):
Wechselwirkungen zwischen den Befragungsergebnissen Alter 2040 und dem Obsan Bericht 03/2022
Der Obsan bericht macht quantitative Aussagen zum künftigen Bedarf an Alters- und Langzeitpflege, wobei demografische, epidemiologische und versorgungspolitische Szenarien durchgespielt werden. Ausdrücklich nicht thematisiert wird unter anderem der Einfluss von Technologie. Die Erkenntnisse aus unserer Befragung lassen dazu einige Aussagen zu:
- Technologie könnte die Zeit des Eintritts in eine Altersinstitution weiter hinausschieben bzw. einen Vorzug für intermediäre Formen (z.B. betreutes Wohnen, Wohnen mit Dienstleistungen) bewirken, was die Zahl zusätzlich benötigter Betten in (klassischen) Altersinstitutionen reduzieren würde.
- Technologie könnte einen Einfluss auf den Fachkräftemangel haben, einerseits indem Arbeitsplätze «wegrationalisiert» werden, andererseits indem die Berufe attraktiver werden, da mehr Zeit für die menschlichen Aspekte freigemacht wird.
- Technologie kann die Lebenserwartung weiter steigern, was wohl primär den intermediären Wohnformen und der Spitex zugute käme.
- Technologie kann die «gesunde» Phase des Alters verlängern, was einen dämpfenden Einfluss auf die zusätzlich benötigten Betten hätte.
Das Altersheim der Zukunft muss dem modernen Menschen gerechter werden.
Nur wer sich mit der neuen Alterskultur, der langfristigen Zukunft der Alterspolitik und Altersarbeit sowie mit allen hier beschriebenen oder neu auftauchenden aktuellen Entwicklungen ernsthaft auseinandersetzt und daraus in seinem Verantwortungsbereich die richtigen Schlüsse zieht, wird den Wandel erfolgreich gestalten. Letztlich bestimmen Geschäftsleitungen und Träger von Altersinstitutionen, Politiker und die Bevölkerung, wie das Zukunftsbild ihrer Institution oder ihrer Gemeinde aussieht.
Dr. Georg Weidmann
Projektleiter terzStiftung
Den ergänzenden Ratgeber «Altersarbeit ist Vertrauensarbeit» können sie gerne per E-Mail bestellen:
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